DAS VERLASSEN DER EBENE

für Tobi Angermann

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Weit und breit kein Gras, kein Baum. Nur das Häuschen in dem er lebte und die kerzengerade Straße die daran vorbei lief. Seit er sich erinnern konnte, lebte er hier und das auch gerne, doch machte sich in letzter Zeit ein Gefühl in ihm breit, das er nicht in Worte fassen konnte. Um ehrlich zu sein gab es dieses Gefühl schon länger, nur wusste er nicht was er dagegen machen könne.

Die Welt in der er lebte war anders und um diese Welt zu betreten bedarf es einer gesunden Portion an Fantasie. Die Unendlichkeit sah er nicht nur, wenn er nach den Sternen blickte, die Unendlichkeit sah er auch am Horizont. Seine Welt war eine Fläche nur war sie nicht endlich. Es gab nicht den Abgrund am Ende, es gab nur die Ebene.

Eines Abends saß er mit einer Zigarette im Mund am Dach seines Hauses und blickte in die Ferne. Dieses unbeschreibliche Gefühl erfasste ihn immer dann, wenn er seine Augen genau dorthin richtete, wo er sie in diesem Moment hatte. Als ihm an diesem Abend eine Träne über die Wange rollte überkam es ihn.

"Morgenfrüh bin ich hier weg." Flüsterte er und machte sich noch im selben Augenblick auf, um den Koffer zu packen.

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Etwas blöd kam er sich vor, als er am nächsten Morgen auf der anderen Seite der Straße stand, seinen Daumen steckte und die ewige Straße gegen Westen blickte. Er wartete auf etwas von dem er nicht wusste ob es das auch wirklich gab, einen Wagen hätte er auf dieser Straße nämlich noch nie gesehen. Die Angst von seinem Gefühl enttäuscht zu werden saß ihm auf den Schultern. Die Stunden vergingen und die Sonne stand mittlerweile steil über ihm. Es war beinahe schon Mittag geworden, den Koffer hatte er schon in der Hand um zurück ins Haus zu gehen, da sah er am Horizont einen Punkt der allmählich immer größer wurde. „Was zum Geier?“ dachte er sich als sich auf der Straße ein Wagen näherte. Es war eine Ente und in der Ente saß eine Ente, die mit starrem Blick und einer unfassbaren Geschwindigkeit auf ihn zu hielt. Aus der Ferne hörte er das quietschen der Bremsen und wie ein Zug kam der Wagen schließlich vor ihm zu stehen.

"Hallo." grüßte er die Ente, "Kannst du mich mitnehmen?" fragte er. Die Ente nahm ihren Blick nicht von der Straße. „Ich will dich warnen..“ Sagte sie mit gewissenhafter Stimme. „Die Straße ist nicht die Heimat eines jeden! Manche gehen verloren und sterben einsam." - "Das nehm ich in Kauf!" Sagte er und schwang sich auf den Beifahrersitz.

Viele Kilometer fiel kein einziges Wort, bis er das Schweigen brach. "Mein ganzes Leben hab ich in diesem Häuschen gelebt, hab mich gefragt was es wohl mit dieser Straße auf sich hat. Und jetzt sitz ich hier." Die Ente kratzte sich am Schnabel. "Mein ganzes Leben hab ich hinter diesem Steuer verbracht. Nie hätte ich geglaubt mal irgendjemanden mitzunehmen!" Bei 120 Sachen drehte die Ente plötzlich den Kopf zu ihm und fragte mit ruhiger, neugieriger Stimme: "Warum hast du dich auf die Straße gestellt?" ER, blickte starr in die Ferne. Die Bodenmarkierungen schossen unter dem Wagen hindurch. "Um die Ebene zu verlassen." Er sagte es mit so einer Gewissheit, dass er es selber kaum fassen konnte. Die Augen der Ente fingen an zu leuchten. Diese Worte lösten in ihr eine derartige Euphorie aus, dass sie lauthals zu quaken begann und währenddessen mehrere Male auf die Hube schlug. Als sie sich wieder beruhigt hatte sank sie in den Sitz. "Ich komme mit!" Schrie die Ente und schlug ein weiteres Mal auf die Hube.

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Sie fuhren gegen Osten. Der Fuß der Ente voll am Gas. Sie kannten jetzt ihr Ziel, sie wussten jetzt wo sie ihr Weg hinführen würde. Auf dieser Straße ohne Anfang, auf dieser Straße ohne Ende. Es schien ihnen, als hätten sie ihr bisheriges Leben nur für diesen Moment gelebt. Jetzt, da alles jetzt war. Die Landschaft zog an ihnen vorbei. Die Dämmerung leuchtete am Horizont. Durch das Fenster zog die warme Luft und mit ihr ein Geruch, der ihn an etwas erinnerte, das so lange zurück lag, dass er nicht einmal versuchte es zu definieren. Doch es war wieder da und das liebte er sehr.

Anzeichen von Zivilisation taten sich auf. Aus der Ferne näherten sich Strommasten, welche schlussendlich neben der Straße verliefen. Sie passierten ein Schild auf dem „Chop Suey“ geschrieben stand. „Ich kenne diese Stadt!“ stammelte die Ente, „und will dort nicht länger bleiben, als unbedingt nötig!“ Sie strahlte plötzlich ein verdammtes Unbehagen aus, als vor ihnen die ersten Wolkenkratzer in die Höhe wuchsen. Graue, dunkle Klötze. Sie kamen näher. Die Größe dieser Stadt war schwer zu fassen. „Grundgütiger!“ Schrie er, als sie sich unmittelbar vor der Stadt befanden, bevor es hinein ging in dieses Labyrinth aus Beton.

Sie tuckerten durch die Straßen. „Wo sind denn alle?“ Fragte er, mit weit geöffneten Augen. „Was glaubst du warum uns auf dem Weg hierher, kein einziger Wagen entgegen kam?“ Wollte die Ente wissen. „Was weiß ich? Keine Ahnung!“ Er kratzte sich am Kopf. „Weil hier niemand mehr lebt! Die Langeweile hat sie fort getrieben.“ Sie fuhren eine Ewigkeit durch diese elendige Stadt, bis sie schließlich kurz vor Downtown stehen blieben. „Hier ist Godfrey’s Milchbar. Und wie ich Godfrey kenne, ist er noch immer da drinnen und schenkt Milch aus!“ Die Ente war völlig ausgetrocknet und auch ER hatte eine Milch bitter nötig.

Sie betraten die Bar. Godfrey war ein Orang-Utan, der sich mit beiden Händen an der Decke hielt und mit seinen Füßen gerade dabei war, einen alten Stammgast beim Halma fertig zu machen. „Ich glaub’s nicht!“ Schrie Godfrey, „Dich hab ich jetzt nicht erwartet! Eine Tasse Milch, für dich und deinen Freund?“ Sie setzten sich an die Bar. Der Stammgast neben ihnen war eine dicke, große Fliege. Ihr Hintern balancierte auf einem Hocker, der unter der Last zitterte. Vor der Fliege stand ein Grüppchen geleerter Tassen. “Mein ganzes Leben hab ich in dieser Bar verbracht, die Welt da draußen ist mir fremd. Immer wenn sich jemand hier herein verirrt stelle ich dieselbe Frage. Wohin gehst du, wenn du diese Bar verlässt?“ Die Ente nahm einen mächtigen Schluck von der Milch, warf  IHM der direkt neben ihr saß einen Blick zu und sagte gedankenverloren: “Wir sind dabei die Ebene zu verlassen.“

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In der Bar herrschte Stille. Wie ein Zauber schoss dieser noch nie zuvor gedachte Gedanke durch ihre Köpfe. Als die Idee in ihre Fantasie sickerte, brach der Wahnsinn aus! Godfrey schwang sich durch die Bar und riss alles von den Wänden was nicht Niet und Nagel fest war. Dabei schrie er und trommelte auf seinem Kopf. Die Fliege lachte und schlug mit ihren Flügelchen! „Wir kommen mit!“ Schrien sie, „Endlich raus aus dieser beschissenen Kneipe!“ Zusammen verließen sie die Bar, geblendet vom ewigen Licht, welches in dieser Welt nie ganz erlosch. Nur gab es da ein Problem: Die Fliege war zu fett. Sie passte nicht in den Wagen. Die Vier hatten schon Probleme sie durch die Tür der Bar zu quetschen! „Scheiße!“ Schrie die Fliege, „Lasst mich zurück verflucht!“ Sie  drückten, schoben, pressten aber die Fliege wollte nicht in die Karre passen!

Da hatte die Ente eine Idee. Sie ging zum Kofferraum und holte zwei kräftige Seile. „Du kommst aufs Dach Fliege!“ Sagte sie lässig und bereitete alles vor. Die Fliege legte sich mit dem Bauch aufs Autodach und wurde festgebunden.

Als Godfrey sich auf die Rückbank schwang, sich die Ente hinters Steuer klemmte und er am Beifahrersitz Platz nahm, war der Wagen sichtlich überladen! Es gelang ihnen dennoch loszufahren. Die Fliege musste schrecklich lachen, wie die Ente vorsichtig durch die leeren Gassen manövrierte. „Das hier ist die Hülle einer gescheiterten Gesellschaft!“ Meinte Godfrey wie er beim Fenster hinaus schaute. „Der Einzelne, der damals noch für diejenigen in den obersten Stöcken schuften musste, ist jetzt frei! Befreit von der Langeweile welche seine Arbeit mit sich brachte..“ Es dauerte eine Ewigkeit bis sie diesen Kokon aus Beton wieder verlassen konnten. Nach und nach wurden die Häuser kleiner und sie rasten schlussendlich am anderen Ende der Stadt wieder heraus. Die Türme verschwanden in der Ewigkeit und vor ihnen lag nur die Straße. - Die Fliege schlief ein. -  Erleichtert zog Godfrey drei Milchflaschen aus einer Tasche und teilte sie aus. Er lehnte sich wieder zurück und stellte die Flasche auf seiner Wampe ab. „Mein ganzes Leben habe ich davon geträumt diesen Ort zu verlassen. Nie hätte ich gedacht eines Tages wirklich abzureisen! Jetzt bin ich mit Ente, DIR und der Fliege am Weg zu etwas noch viel größerem!“ Genüsslich saugte er an der Flasche. Das ewige Licht leuchtete, wie sie es selten zuvor erlebt hatten. Gold gelb schien es ihnen durch die Windschutzscheibe ins Gesicht. Immer weiter führte sie die Straße hin, immer stärker wurde das Gefühl der Freiheit. Heller und heller wurde es um sie herum. Der Wagen schien schneller zu werden, als würde das Leuchten sie anziehen! Die Ente bekam es mit der Angst zu tun! Noch nie war sie mit einer derartigen Geschwindigkeit unterwegs gewesen! Sie reichte ihm ihre Milchflasche und griff das Lenkrad mit beiden Händen. Auch Godfrey, der bislang gemütlich auf der Rückbank  lungerte, trieb es jetzt die Angst ins Gesicht.

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In diesem Moment hatte die Fliege einen Traum. Ein Traum, so schön dass man das Erwachen bereut. So voller Glück, dass man seine Wahrhaftigkeit nicht in Frage stellt. Die Fliege träumte davon die Ebene zu verlassen. Mit einem beseeltem Lächeln im vom Gegenwind verzerrtem Gesicht, stieß sie einzelne Flügelstöße aus, sodass sich der Wagen immer wieder kurz von der Straße hob. „Was passiert hier?!“ Schrie die Ente ungläubig. Sie hatte zu kämpfen den Wagen in der Spur zu halten. „Was um alles in der Welt passiert?!!“ Die Fliege ging in ein konstantes Summen über und der Wagen hob sich von der Straße. Sanft glitten sie in die Lüfte und verschwanden im Licht.

Ende